Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat beide Revisionen nach Einholung medizinischer und psychologischer Sachverständigengutachten zur Funktionsweise von Polygraphen verworfen, weil diesen keinerlei Beweiswert i.S.d. § 244 Abs. 3 StPO zukommt.
Allerdings hält der 1. Strafsenat an der seit der Entscheidung vom 16. Februar 1954 vertretenen Auffassung, die Anwendung polygraphischer Untersuchungsmethoden verstoße gegen die Menschenwürde, nicht fest. Jedenfalls bei freiwilliger Mitwirkung des Beschuldigten kann die Durchführung einer solchen Untersuchung des seine Entlastung erstrebenden Beschuldigten eher dem Schutzgebot der Verfassung und seinem Verteidigungsinteresse gerecht werden.
Da nach den eingeholten Sachverständigengutachten in Deutschland bei Anwendung der Polygraphenuntersuchung keine gravierenden Irreführungen (gezinkte Karten) vorkommen, liegt auch eine nach § 136a Abs. 1 StPO untersagte Täuschung nicht vor.
Bei einem Polygraphen handelt es sich um ein Gerät, das körperliche Vorgänge mißt, die der willentlichen Kontrolle des Untersuchten weitgehend entzogen sind (z.B. Blutdruck, Puls- und Atemfrequenz). Dem Beschuldigten werden während der Messung Fragen gestellt, deren Inhalt vom angewendeten Testverfahren abhängt.
Das Kontrollfragenverfahren geht davon aus, daß Täter und Nichttäter auf tatbezogene Fragen einerseits und nicht die Tat betreffende Fragen (Kontrollfragen) andererseits psychisch unterschiedlich reagieren. Dies soll sich in dem mit dem Polygraphen erzielten Meßergebnis niederschlagen, so daß aus einem Vergleich der unterschiedlichen Ausschläge der Meßkurven auf die Täterschaft des Beschuldigten geschlossen werden könne.
Dieses Konzept ist jedoch falsch:
Bereits die Grundannahme trifft nicht zu. Denn nach einhelliger wissenschaftlicher Auffassung ist es nicht möglich, eindeutige Zusammenhänge zwischen emotionalen Zuständen eines Menschen und hierfür spezifischen Reaktionsmustern im vegetativen Nervensystem zu erkennen. So muß beispielsweise die Veränderung des Blutdrucks nicht auf der Entdeckungsfurcht beruhen, sondern kann völlig andere, nicht erfaßbare Ursachen haben. Insbesondere ist nicht nachweisbar und deshalb für den letzt- und eigenverantwortlich entscheidenden Richter nicht überprüfbar, daß der zu Unrecht Verdächtigte emotional gelassener reagiert als der Täter. Die verbreitete Bezeichnung des Polygraphen als „Lügendetektor“ entbehrt daher jeder Grundlage.
Anderes ergibt sich auch nicht aus den Berichten über hohe „Trefferquoten“ (bis zu 98,5 %) bei der Durchführung von Studien. In der Wissenschaft besteht weitgehend Einigkeit, daß sich die in experimentellen Untersuchungen (Labor- und Analogstudien) erzielten Ergebnisse von vornherein nicht auf die gerichtliche Praxis übertragen lassen, weil die Testbedingungen der Wirklichkeit eben nicht entsprechen. Dagegen sind in Feldstudien, d.h. bei Untersuchungen anhand „echter“ Kriminalfälle gewonnene Ergebnisse deshalb ohne jeglichen Beweiswert, weil es keinen Maßstab gibt, ihre Richtigkeit zu überprüfen. Es treten weitere Einwände hinzu: Die mitgeteilten Richtigkeitswerte sind Folgen der Verzerrung des statistischen Fallmaterials und
daher statistisch wertlos. Aus den – ohnehin falschen – „Trefferquoten“ der Untersuchungen kann kein Schluß auf die Beweislage im konkreten Einzelfall gezogen werden.
Das Tatwissenverfahren zielt dagegen auf die Feststellung ab, ob der Beschuldigte Kenntnisse über die Tat („Täterwissen“) besitzt. Sein Funktionieren setzt voraus, daß dem Beschuldigten Details über die Tat ausschließlich durch die Begehung selbst bekannt geworden sind. Daraus folgt, daß diese Untersuchungsmethode jedenfalls dann völlig ungeeignet ist, wenn Beschuldigter oder Nichttäter bereits von den Vorwürfen und Ermittlungsergebnissen in anderer Weise Kenntnis erlangt haben, beispielsweise durch den Verteidiger, die Medien oder die Anklageschrift. Eine Verwendung des Tatwissentests erst zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung scheidet deshalb in jedem Falle aus.
Urteile vom 17. Dezember 1998 – 1 StR 156/98 und 1 StR 258/98
Karlsruhe, den 17. Dezember 1998
Quelle: Pressestelle des Bundesgerichtshofs